Gedanken zum 50. Jahrestags des Militärputschs in Chile
Der 11. September ist ein geschichtsträchtiger Tag. Ich meine nicht den 11. September 2001, sondern den 11. September 1973. Damals, vor 50 Jahren, stürzte das chilenische Militär die sozialistische Regierung von Salvador Allende und errichtete eine viele Jahre andauernde Militärdiktatur.
Der blutige Putsch beendete abrupt Chiles gerade begonnene Demokratisierung. Er kostete mehr als 3.000 Menschen das Leben. 38.000 Frauen und Männer wurden zu politischen Gefangenen und Folteropfern. Soweit die offiziellen Zahlen, zu finden bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Dort geht man davon aus, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist.
Persönlich erinnere ich mich, wie wir 1976 als Schulkinder Briefe schrieben und die Freilassung des chilenischen Politikers und Kommunisten Luis Corvalan aus einem chilenischen Konzentrationslager forderten.
Als unsere Medien vor einem Monat über den 50. Jahrestag des Putsches in Chile berichteten, nannten sie die Drahtzieher dahinter eher beiläufig und am Rande. Es waren reaktionäre Kräfte in den USA, die den Putsch erdachten, vorbereiteten, initiierten und sich aktiv daran beteiligten.
Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Spannungen lohnt es sich, die damaligen Geschehnisse detaillierter zu betrachten. Dazu empfehle ich ein Buch von Jason Hickel mit dem Titel „Die Tyrannei des Wachstums“. Es ist als E-Book erhältlich und kostet knapp 25 Euro.
Der Anthropologe Hickel ist in Swaziland geboren. 2017, als sein Buch „Die Tyrannei des Wachstums“ zum ersten Mal erschien, lehrte er an der London School of Economics. Von 2017 bis 2019 war Hickel Mitglied der Arbeitsgruppe der britischen Labour Party für internationale Entwicklung. Seit 2020 ist er Mitglied der Harvard-Lancet-Kommission für Reparationen und Umverteilungsgerechtigkeit. Soviel zum Autor.
Nun zum Buch. Das westliche Narrativ besagt, dass unser Wirtschaftssystem so erfolgreich ist, weil dort der freie Wettbewerb herrscht, Deshalb sei es auch in der Lage, die globalen Probleme der Menschheit zu lösen. Beide Thesen entlarvt Hickel in „Die Tyrannei des Wachstums“ als interessensgelenkte Lügen. Auf knapp 400 Seiten Text und in anschließenden Anmerkungen zeigt er anhand vieler Zahlen, Fakten und Beispiele in ihrem zeitlichen Ablauf,
- dass die angebliche Verringerung der globalen Probleme vielfach nur auf statistischen Verfälschungen beruht,
- wie der klassische Kolonialismus durch eine Politik der Staatsstreiche und durch eine Verschuldungspolitik ersetzt wurde,
- welche Rolle Welthandelsorganisation, IWF, Weltbank sowie die Entwicklungshilfeindustrie dabei spielen
- und was vielleicht dazu beitragen könnte, die Kluft der Ungleichverteilung des globalen Reichtums zu schließen
Nach dem 2. WK waren die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien geschwächt. Im sich neu bildenden westlichen System gab es progressive politische Kräfte, die USA entwickelten ihre Vorherrschaft und in den damaligen Kolonien erstarkten nationale Befreiungsbewegungen. Ein Land nach dem anderen erlangte die Unabhängigkeit.
Zitat aus dem Buch (Seite 148): „Zum ersten Mal waren die Länder des Globalen Südens in der Lage, ihre eigene Wirtschaftspolitik zu bestimmen. Und da sie sahen, wie gut der Keynesianismus in Europa und in den Vereinigten Staaten funktionierte, übernahmen sie schnell seine Grundprinzipien: eine staatlich gelenkte Entwicklung, großzügige Sozialausgaben und anständige Löhne für die Arbeiter. Und sie ergänzten den keynesianischen Konsens um einen entscheidenden Grundsatz: Sie wollten ihre Volkswirtschaften zum Wohl der eigenen Nation aufbauen statt ausschließlich zum Nutzen fremder Mächte. Damit begann die Ära des Developmentalismus.“
Diese Politik zeigte echte Erfolge: sie reduzierte die Armut, verbesserte die Lebensbedingungen vieler Menschen und schuf ein postkoloniales Wirtschaftswunder in den ehemaligen Kolonien.
Man könnte nun denken, dass diese Entwicklungen im demokratischen Westen begrüßt wurden. Bei den progressiven Kräften war das sicher der Fall, nicht jedoch bei den multinational agierenden Konzernen, die ihre Interessen bedroht sahen.
1953 wurde Eisenhower Präsident der USA. Er holte die Brüder Dulles in sein Team: John Foster Dulles als US-Außenminister (bis zu dessen Tod 1959) und Allan Dulles als CIA-Chef. Beide Brüder hatten zuvor in Anwaltskanzleien gearbeitet & namhafte Großunternehmen vertreten. Dazu zählten Unternehmen, die von der wirtschaftlichen Ausbeutung anderer Volkswirtschaften profitierten und profitieren. Es war und ist in ihrem Interesse, eine erfolgreiche Emanzipation des globalen Südens aus den kolonialen Abhängigkeiten zu verhindern.
Zitat aus dem Buch (Seite 154): „Aber die Eisenhower-Administration wusste, dass es schwierig werden würde, Maßnahmen gegen eine Bewegung zu rechtfertigen, die so offensichtlich auf den Grundsätzen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit beruhte. Eisenhower musste einen Weg finden, die US-Öffentlichkeit auf seine Seite zu bringen. Und letztlich gelang ihm das, indem er oft und gern auf die Propaganda des Kalten Krieges zurückgriff. Er zeichnete ein Bild, das den Developmentalismus als ersten Schritt in den Kommunismus erscheinen ließ, (…)“
Unter dem maßgeblichen Wirken beider Dulles-Brüder entwickelten die USA eine Politik der weltweiten Staatsstreiche, um in anderen Ländern US-genehme Regierungen zu etablieren.
Den ersten Regimechange verübten die USA 1953 im Iran und trugen dort aktiv zu jenen Entwicklungen bei, die sie heute anprangern. Dem blutigen Putsch in Chile 1973 sind im Buch mehrere Seiten mit sehr detaillierten Angaben gewidmet. Diese vielfach von den USA praktizierte Art Geopolitik verstößt eklatant gegen Artikel 2 der UN-Charta von 1945, mit dem sich auch die USA zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten verpflichtet haben.
Ich möchte diesen Beitrag mit ein paar persönlichen Gedanken abschließen, die mir bei der Lektüre von „Die Tyrannei des Wachstums“ gekommen sind:
Punkt 1 Ein Abschnitt im Buch trägt die Überschrift „Vom Kolonialismus zum Staatsstreich“. Die dort dargelegten Fakten zeigen, dass die USA mit ihrer aggressiven, imperialen Politik maßgeblich verantwortlich für die gravierende Schwächung des Völkerrechts sind.
Punkt 2 Die Grundlagen für das politische System in den USA haben sich nicht geändert. Daher gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die USA jetzt im Sinne von Demokratie und Menschenrechten handeln.
Punkt 3 Nach dem besagten US-Außenminister John Foster Dulles ist seit 1959 eine Straße nahe dem Bundeskanzleramt in Berlin benannt. Das zeigt, wie sich die Bundesrepublik Deutschland zu den blutigen Völkerrechtsbrüchen der USA positioniert.
Punkt 4 Die Ausführungen im Buch machen deutlich, dass die großen Probleme der Menschheit verschiedene Seiten der gleichen Medaille sind. Bestrebungen für den Umweltschutz, für die Reduzierung von Hunger und Armut sowie für die friedliche Lösung geopolitischer Konflikte gehören daher zusammen. Die logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis wäre, dass Menschen, die sich für Umweltschutz, Menschenrechten und Frieden einsetzen, sich gemeinsam für eine bessere Welt engagieren. Leider ist viel zu oft das Gegenteil der Fall. Wir sollten uns bewusst sein, dass die Atomisierung der westlichen Gesellschaften hauptsächlich den Interessen jener dient, deren Politik für die globalen Menschheitsprobleme verantwortlich ist.
Punkt 5 Wir heute Lebenden sind nicht für den Kolonialismus der vergangenen Jahrhunderte verantwortlich, jedoch für die aktuelle Politik unserer Regierung, denn schließlich haben wir ein demokratisches Mitbestimmungsrecht. Oder etwa nicht?
Punkt 6 Wer sich mit der Vergangenheit nicht auseinandersetzt, ist gezwungen, sie zu wiederholen. Gedenken wir in diesem Sinne der Ereignisse in Chile.
Ein friedensbewegter Bürger der Stadt Halle